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  1. "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie!" Ich würde Mephisto nicht zwingend zustimmen -- Theorien können faszinierend sein, weswegen ich mich auch an der Universität auf theoretische Astrophysik spezialisierte -- doch die Praxis ist mindestens ebenso aufregend... "aufregend" ist das richtige Adjektiv, denn aufgeregt war ich, und wie! Endlich aus dem verschlafenen Städtchen in die Groß- und Hauptstadt Berlin umgezogen, wo ich ein "Bezahlhobby" gefunden hatte, das mir hinreichend Luft für meine Unbezahl-Arbeit (Bücher schreiben) ließ: Jetzt konnte ich auch das "Projekt Freundin" in aller Ruhe starten. Doch mit innerer Ruhe war's vorbei, als ich zu meiner ersten experimentellen Mission auszog: Eine Frau ansprechen, und schauen, wie sie reagiert! Ich hatte bereits im Forum gelesen, dass es unklug sei, extra zum Ansprechen auszuziehen; man solle dies lieber mit den Dingen, die man ohnehin unternimmt, kombinieren. Dies schien mir sehr klug; daher brach ich auf, um mich bei der Stadtbibliothek Berlin anzumelden und nebenher meinen ersten Versuch durchzuziehen. In der Bibliothek war es recht ruhig und fast ausgestorben. Nur wenige Leute saßen im Eingangsbereich und der Cafeteria, darunter kaum junge Frauen. Also erstand ich erst einmal mein Leihkärtchen -- dann rief mich auch noch mein Chef an und bat mich, einen Report über einen indischen Industriellen zu verfassen... nun gut! Der indische Industrielle hatte einen für europäische Ohren sehr eingängigen, onomatopoetischen Namen. Doch bevor ich mich mit ihm näher befasste, sollte erst einmal mein erstes Frauenexperiment steigen! Hm... keine Damen in Sichtweite! Ich würde einen anderen Ort aufsuchen müssen. Der Berliner Fernsehturm wuchtete in geringer Entfernung in den Abendhimmel. Alexanderplatz. Warum nicht dorthin spazieren. Schließlich wuselt es dort stets vor Menschen. Über die Spree. In meinem Magen bildete sich ein Knoten. Einfach so etwas Alltägliches zu einem fremden Menschen welchen Geschlechts auch immer zu sagen: Fällt mir nicht schwer. "Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo es zum Bahnhof Hintertannenwaldstadlgupfingen geht?" -- nicht schwierig. Ich zielte also bereits auf die nächste Stufe: Einer Dame etwas nettes sagen; einen Flirt initiieren. Und hier wurde es schwierig, einschüchternd, umwerfend... gruselig! In einem Forumsthread bemerkte jemand, Männer würden doch eigentlich auf ihre Ziele stracks zutraben -- sportlicher werden? Man geht zum Sportverein; hungrig? Man macht oder kauft sich etwas zu essen oder geht ins Restaurant; Harndrang? Toilette oder Baum oder Zaun (allerdings Achtung vor Elektrozäunen!!) -- bis auf das Verlangen nach Kontakt mit der holden Damenwelt: da wird man plötzlich klein und weicht taumelnd vom Weg ab, erfindet tausend Ausreden: Jetzt nicht -- falscher Ort! -- falsche Situation! -- zu spät, zu früh, ich bin zu müde... denn nichts fürchtet der Mensch mehr, als in den Augen anderer lächerlich zu sein, und wer eine Dame anspricht, setzt seine gesamte Persönlichkeit einer kritischen Durchleuchtung aus (fürchtet man zumindest). Das Einkaufszentrum "Alexa". Lauwarmes Easy-Listening-Gedudel aus den Lautsprechern, treibende Menschenströme, Buchhandlungen, Boutiquen, Papiergeschäfte, Fanartikel, Kaffee, Schokolade, Parfum... Reichlich Damen an allen Ecken und Enden. Der Knoten in meinem Magen enorm. "Werde mich nicht trauen -- nicht trauen -- nicht trauen! Ich werde Ausreden erfinden und nachhause huschen und mich über mich selbst scheckig ärgern... jetzt!, diese hier ist hübsch, sie werde ich... argh! Feine Kabel springen von ihren Ohren zum Smartphone, sie hat sich von der Welt abgekapselt. Da drüben, sieht sie nicht nett aus? Aber fünfzig Meter entfernt: ich kann ihr ja schlecht hinterherrennen. Da, die mit gefärbtem Haar schaut lustig aus -- aber geht mit ihrem Freund Arm in Arm. Oh, dort auf der Sitzbank: Herrliches Haar -- aber ebenfalls smartphoneverkabelt! Diese dort? Zu weit fort. Diese hier? Schaut so mürrisch. Die da hinten? Verschwindet im Maniküre-Salon, wohin ich ihr kaum folgen kann, ohne Aufsehen zu erregen -- überhaupt, Aufsehen: Starren mich nicht schon alle an?? Oh, der schlimme gruselige Mann, der Frauen zum Ansprechen abpassen will! Sei still, irrationaler neuronaler Schaltkreis! Ich gehe mal vor die Tür, eine Zigarette rauchen..." Unter solchen Gedanken verging die Zeit, bis das Glockensignal ankündigte, dass das Einkaufzentrum bald schließen werde. "Aber, ABER: Heute werde ich keinen Rückzieher machen! Ich habe mir dieses Experiment vorgenommen, und ziehe es durch! DOCH! Ich gehe nicht nachhause, ohne mit einer Dame gesprochen zu haben, PUNKT!" Draußen nieselte es. Ich steuerte die S-Bahn-Station an. Vielleicht in der Bahnhofsbuchhandlung...? Ach, ich wollte noch nicht zur S-Bahn. Auf dem Alex krakehlten irgendwelche Montagsdemonstranten in breitem Sächsisch über die "Oabaidsloosichgaid", schreckliches Getöse. Die Galeria Kaufhof sah einladend ruhig aus, meine Füße steuerten dorthin. Vor einem Handtaschenstapel stand, recht zerstreut und etwas ziellos scheinend, ein Mädchen, eine wunderschöne Schwarze. Der Knoten im meinem Magen löste sich auf in reinem Willen, im Willen, sich in den Abgrund, den eisigen Fjord zu stürzen; keine Furcht, keine Bedenken mehr -- nur noch: vorwärts, vorwärts! "Entschuldigen Sie. Ich musste es Ihnen einfach sagen: Sie sind wunderhübsch!" "Oh, excuse me, I don't speak German, I'm from England!" Des Englischen war ich doch mächtig -- und ihre Sprache klang so fein artikuliert, schönes altes Britisch -- da wiederholte ich mein Kompliment auf Englisch. [Ab nun alles übersetzt.] Sie strahlte über das ganze Gesicht: "Vielen, vielen Dank!" Sie streckte ihre Hand aus, ich ergriff sie, behielt sie vielleicht einen winzigen Augenblick länger, als es bei einer simplen Begrüßung eines Fremden gebräuchlich ist. "Ich mag mein Glück hier auf die Probe stellen, aber würden Sie mit mir eine Tasse Kaffee trinken gehen?" Sie wollte, was mich nicht übel verblüffte. Erst heute früh sei sie aus London angekommen -- eine Geschäftsreise -- sie wolle sich ein wenig umsehen. Wie sie heiße, fragte ich, als wir vor den Eingang des Kaufhofs traten. "Ashley" [Name geändert]. "Cosmo" [ -- natürlich auch nicht realer Name ;) ] -- wir schüttelten erneut Hände, und diesmal behielt ich ihre vielleicht noch ein Mikrosekündchen länger als beim ersten Mal. Auch erst seit rund neun Wochen in Berlin, waren mit keine Cafés in der Umgebung des Alex geläufig; einer spontanen Eingebung folgend lud ich sie zu Dunkin Donuts ein. Sie erzählte von England und den Reisen, die sie gerne machte, ich von Berlin und Deutschland und sah ihr in die Augen -- wie hübsch ihr Gesicht war! dichtes schwarzes Haar, dunkelbraune Haut, volle Lippen, tiefdunkle Irisse -- und erzählte, dass ich sowas bislang selten gemacht habe -- Mädchen spontan ansprechen -- ihre nette Reaktion habe mich überrascht. Sie werde in London oft angesprochen -- sagte sie -- aber fühle sich in meiner Gegenwart völlig wohl. Komfort hatte ich somit schon aufgebaut; doch reizte es mich natürlich, einen Hauch von erotischer Spannung zu entzünden. Wie gern wollte ich ihre Hand nochmal berühren -- länger, minutenlang, stundenlang -- oder sie sogar küssen, auf ihren vollen, feuchten, herrlichen Mund. Doch dies lag noch eine Stufe höher. Ich hatte auf einen Schlag mehr erreicht, als ich erhofft hatte. Ein Gespräch von dreißig Sekunden Länge, ein wenig Gelächel hatte ich angestrebt, stattdessen: Ein Sofort-Date. Dafür, dass ich erst kürzlich aus einer Situation längerer sozialer Isolation nach Berlin ausgebrochen war, ein mehr als überraschendes Ergebnis. Ich erwähnte das Großbuch, an dem ich seit 2012 arbeite, was Ashley nicht übel zu beeindrucken schien (obwohl's ja noch nicht fertig ist); ich fügte hinzu, es orientiere sich teilweise am Stil des Berliner Giganten Alfred Döblin. Den kannte Ashley nicht, ich empfahl ihr, passend zu unserer Umgebung, "Berlin Alexanderplatz". Man sah an ihren Augen, wie sie sich den Titel deutlich einprägte. Ashley bemerkte, sie wolle sich ein wenig in der Umgebung umsehen, schließlich sei sie erst zum zweiten Mal in Berlin. Ob sie einen Spaziergang machen wolle? Sie stimmte eifrig zu, wir gingen hinaus, und ich war ein Stückchen ratlos, da ich den Stadtteil auch noch nicht in- und auswendig kannte. Mehr oder minder nach dem Zufallsprinzip steuerten wir in Richtung Deutscher Dom und Parlament. Ashley war tief beeindruckt von der Koloss-Architektur auf dem Alexanderplatz, dem Turm und dem zugehörigen Komplex, sagte, soetwas gebe es in London nicht. Es sei bemerkt, dass die Briten mit ihrem Brutalismus in den 1960ern etwas der sozialistischen Wuchtarchitektur entfernt Ähnliches hatten -- doch das erwähnte ich nicht: vielmehr hoffte ich inständig, hinter der Kuppel des Deutschen Doms möge ein feuerspeiender Drache hervorstürzen und Ashley entführen, damit ich sie retten konnte. Der Drache blieb aus. Bis zum Dom gingen wir nicht, Ashley sagte, ihre Füße täten ihr weh, sie habe Hunger! In meinem Kopf begann es zu wirbeln: Mit ihr zu abend essen wäre ein weiterer, ganz unerwarteter Schritt aufwärts... aber ich hatte keinen Cent Geld mehr einstecken (natürlich nahmen viele Restaurants Karten an...) -- doch die wenigen Restaurants in der Umgebung gefielen Ashley nicht (ein Steakhaus und ein "Kartoffelhaus"), sie wollte zurück in ihr Hotel und dort etwas essen. Sie würde nur bis Mittwoch in Berlin bleiben. "Wenn du länger bliebest, würde ich jetzt nach deiner Nummer fragen", sagte ich; sie lachte sehr freundlich, liebevoll fast: "Das ist so schrecklich nett, aber in London habe ich schon einen Freund." Ich sah vergnügt und sehr entspannt drein. Beim ersten Experiment hatte ich meine eigenen Erwartungen um den Faktor 1000 übertroffen, sollte es mich jetzt grämen, dass sie in einer Beziehung war, ich somit keine Liebesnacht in ihrem Hotelzimmer folgen lassen konnte? Ein Verführungsprofi hätte das möglicherweise geschafft -- aber hey! So hoch ziele ich gar nicht, ich suche eine coole Freundin, dazu will ich nicht unbedingt anderer Leute Beziehungen verderben. Ich war viel zu entspannt, um auch nur einen Hauch von Verdruss über irgendetwas zu empfinden. "Du machst das ganz richtig, sprich weiter Frauen an, so findest du eine Freundin!" -- Ashley. Nun, da konnte ich nur zustimmen! Der ganze Sommer liegt immerhin vor uns. Meines Erachtens nach ist die Frage nicht, ob ich eine Freundin finde, sondern eher wann und wie. Zum Abschied durfte ich die Ashley zweimal knuddeln, das zweite Mal sogar ziemlich fest und lang: da machte sie ein niedliches, quiekendes Geräusch, die Art, die Mädchen von sich geben, wenn sie etwas bezaubernd und nett finden. Sie strahlte mich an, wir winkten -- dann, wie Kurt Tucholsky schreibt: Vorbei, verweht, nie wieder... Aber ich schwebte auf Endorphinwolke Nr. 999. Honigkuchenpferdselig zur S-Bahn. Im Wagen wollte ich ein wenig Rabelais' "Gargantua" lesen, hielt aber das Buch vorwiegend auf meinem Schoß und schwärmte und träumte noch ein wenig von der Ashley... Experiment Nr. 1. Eine Prise Anfängerglück wohl. Bis zur Freundin sind noch einige Stufen zu überwinden; da werden Misserfolge, Zurückweisungen nicht ausbleiben, möglicherweise bis hin zu "Hau ab!" und Backpfeifen und Ähnlichem. Aber der erste Sprung ist schon einmal getan, da sollten die weiteren glücken. Ich bin kein Freund von unnötigem Stress und Kummer und Aufregung. Das "Freundin-Projekt" gehe ich in aller Ruhe an. Weitere Experimente werden folgen, schon bald. Bei Interesse werde ich hier in diesem Thread kleine Reportagen darüber schreiben.